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Ich war dreißig, hatte gerade meine Doktorarbeit abgegeben, hier etwas geschrieben, da etwas geschrieben, sah mir eines Morgens im Spiegel ins Gesicht und sagte zu mir: Junge, du bist kein Genie. Keine Ahnung, wie das anderen Leuten geht, vielleicht halten sie sich alle für Genies oder auch nicht, und es ist ihnen egal. Bis zu diesem Tag hatte ich mich, kleinere kosmetische Zweifel hier und da, für viel klüger gehalten, als ich bei Lichte betrachtet bin. Dann blickte ich in den Spiegel und sah, was ich wirklich war: ein leidlich begabtes Nichts. Mit der Fähigkeit zur Selbsterkenntnis, das immerhin, das immerhin. Ein Moment wie die Momente, in denen einem klar wird, du bist nicht unsterblich, einer der Momente, in denen man aus sich hinaustritt und die Welt sieht, wie sie ohne einen ist (kein bisschen anders) und weiß, dass sie einen nicht braucht. Dass man ein Nichts ist, mit dem es bald aus sein wird. So blickte ich mich an, wie jemand, der klüger ist als ich, mich anblicken würde und dachte mir: du bist unerheblich, ganz und gar unerheblich. Es ist einer der Augenblicke, in denen du dein Leben änderst, natürlich, aber, das ist ganz erstaunlich, du kommst drüber weg, irgendwie. Genauso wie du weiterlebst, als wärst du nicht sterblich, auf diesem gar nicht existierenden Boden über dem Abgrund, den du dir wie selbstverständlich denkst und dadurch ist er da, eine nützliche, eine lebenswichtige Illusion. Ich habe mein Leben weitergelebt, im bescheidenen Rahmen, nicht ohne Erfolg. Und doch ist da dieses Wissen, vom Tod, von der Bescheidenheit der eigenen Mittel, das, als unbewusste, kaum gespürte Spur, in jedem meiner Gedanken und in jeder meiner Taten, in allem steckt, was ich denke und tue.
 

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