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Am Wochenende Ausflüge an den Sonnensee mit den Großeltern. Überm Wasser Libellen und neben mir, in einem großen Frotteemantel, meine Großmutter, die sich in ihren Badeanzug zwängt, den nackten Körper den Blicken entzogen. Ich musste immer hinsehen, sah aber nie etwas. Als mein Großvater im Sterben lag, gelb im Gesicht vom Krebs, maßlos wütend über seine Hilflosigkeit, riss er sich einmal, meine Mutter und ich waren im Zimmer, die Bettdecke vom Leib, starrte uns an, nackt, abgemergelt. Wenn's ans Sterben geht, ist alles dahin, rief er, so laut, wie seine heisere Stimme es vermochte. Vielleicht hat meine Mutter das erste Mal den Schwanz ihres Vaters gesehen, jedenfalls erinnere ich mich, wie wir beide starrten, bis aus dem Flur meine Großmutter herbeieilte, die Decke auf ihn warf und abervati sagte, als wäre er ein ungezogenes Kind. Meine Großmutter, immer eine Badekappe mit Noppen auf dem Kopf, schwamm oft eine ganze Stunde im See. Ich saß am Ufer, das matschig war, sprang mal ins Wasser, vergaß meine Großmutter und meinen Großvater, der die Zeitung las oder auch verschwand, in den Wald, und Pilze sammeln ging. Niemals Pilze mit Lamellen, so seine Regel, meistens gab's deshalb Maronen, am Abend, die meine Großmutter zubereitete. Vor allem, ich weiß nicht warum, muss ich an die Libellen denken. Ob ich die Tage am See langweilig fand oder schön, ich kann's nicht mehr sagen. Vielleicht das eine, und das andere auch.

Ich war dreißig, hatte gerade meine Doktorarbeit abgegeben, hier etwas geschrieben, da etwas geschrieben, sah mir eines Morgens im Spiegel ins Gesicht und sagte zu mir: Junge, du bist kein Genie. Keine Ahnung, wie das anderen Leuten geht, vielleicht halten sie sich alle für Genies oder auch nicht, und es ist ihnen egal. Bis zu diesem Tag hatte ich mich, kleinere kosmetische Zweifel hier und da, für viel klüger gehalten, als ich bei Lichte betrachtet bin. Dann blickte ich in den Spiegel und sah, was ich wirklich war: ein leidlich begabtes Nichts. Mit der Fähigkeit zur Selbsterkenntnis, das immerhin, das immerhin. Ein Moment wie die Momente, in denen einem klar wird, du bist nicht unsterblich, einer der Momente, in denen man aus sich hinaustritt und die Welt sieht, wie sie ohne einen ist (kein bisschen anders) und weiß, dass sie einen nicht braucht. Dass man ein Nichts ist, mit dem es bald aus sein wird. So blickte ich mich an, wie jemand, der klüger ist als ich, mich anblicken würde und dachte mir: du bist unerheblich, ganz und gar unerheblich. Es ist einer der Augenblicke, in denen du dein Leben änderst, natürlich, aber, das ist ganz erstaunlich, du kommst drüber weg, irgendwie. Genauso wie du weiterlebst, als wärst du nicht sterblich, auf diesem gar nicht existierenden Boden über dem Abgrund, den du dir wie selbstverständlich denkst und dadurch ist er da, eine nützliche, eine lebenswichtige Illusion. Ich habe mein Leben weitergelebt, im bescheidenen Rahmen, nicht ohne Erfolg. Und doch ist da dieses Wissen, vom Tod, von der Bescheidenheit der eigenen Mittel, das, als unbewusste, kaum gespürte Spur, in jedem meiner Gedanken und in jeder meiner Taten, in allem steckt, was ich denke und tue.

Musik im Hintergrund, meine Mutter, die Klavier spielt, sehr schön, dabei bleibe ich, schätzungsweise neunzehnhundertneunundsiebzig. Ich sehe, dass der Fernseher läuft, in meiner Erinnerung, die mir diese Szene vorführt, aber ich sehe nicht, welche Sendung. Ein unbestimmtes Flackern, in Zeilen zerfallen wie ein Fernsehbild im Film, die Illusion dahin. Sagen wir die Tagesschau, es ist noch hell, will aber Abend werden, ein Tag im Sommer, draußen die Hitze, drinnen die Klaviermusik, auf der Straße rattert ein Traktor vorbei, vom Feld zum Hof, wir wohnen am Stadtrand. Ich sitze am Tisch, schwarzer Holzrand, eine grünliche Marmorplatte als Inlay, ein paar Jahr später wird sie zerspringen, als die Lampe, acht goldene Arme, gelbliches, in Richtung Bernstein spielendes Glas, von der Decke fällt, auf den Tisch, der Marmor springt. An den Tisch im Wohnzimmer, der dann kam, erinnere ich mich nicht. Noch später einer mit zwei Beinbögen, darauf Glas, der ging nicht kaputt, war immer voller Flecken. Jetzt aber das Jahr neunzehnhundertneunundsiebzig, meine Mutter im Nebenzimmer, mein Vater im Sessel vor dem Fernseher. In meiner Erinnerung sind sie immer schon alt wie alle Eltern. Auf den Fotos, längst falschfarben bunt mit komischen Autos im Hintergrund, staune ich stets über diese jungen Menschen, die ich kenne und nicht kenne. Auch ich bin oft im Bild, natürlich, der Stolz der kleinen Familie, ich sehe mir in die Augen, hallo, das bin ich, das sind meine Eltern. In der Szene, die meine Erinnerung spielt, sehe ich mich nicht, denn ich bin der, der sieht. Dafür mein Vater im Sessel mit grauem Haar. Das kann nicht sein, nicht im Sommer neunzehnhundertneunundsiebzig, meine Erinnerung muss trügen, die Fotos zeigen meinen Vater mit dunklem Haar in der Zeit.

Mein Vater hat keine nützliche Erfindung gemacht. Ich habe das erfunden. Wir hatten nie viel Geld und meine Mutter ist nie nach Toronto geflogen. Vielleicht ist es nicht verkehrt, Dinge zu erfinden, die man gerne hätte. Oder von denen man glaubt, dass man sie gerne hätte, obwohl man weiß, dass dann nichts besser wäre, im Grunde. Meine Mutter hat Klavier gespielt, aber unser Klavier war immer verstimmt. Und mein Vater war ein Beamter im höheren Dienst, so heißt das bei Beamten, eine Laufbahn im höheren Dienst. Eine Beamtenlaufbahn. So sagt man. Einfacher Dienst, mittlerer Dienst, gehobener Dienst, höherer Dienst. Er diente dem Staat. Vielleicht gibt es gar keinen einfachen Dienst, ich müsste da jemanden fragen, der sich auskennt. Mein Vater lebt nicht mehr. Wenn er etwas Nützliches erfunden hätte, denke ich, dann wäre es eine neue Umlaufmappe gewesen oder eine Methode, die Abläufe in der Finanzbuchhaltung zu vereinfachen. Er sagte immer, er sei kein Freund der Bürokratie. Oft äußerte er sich zu politischen Fragen. Jeden Tag brachte er, in einer Aktentasche, immer derselben all die Jahre hindurch, an die ich mich erinnern kann, Papiere nach Hause. Nach dem gemeinsamen Abendessen, meine Mutter, mein Vater, mein Bruder und ich, wir aßen Brot und Butter und Wurst, zog er sich noch eine Stunde, nie viel länger, in sein Arbeitszimmer zurück und arbeitete weiter. Ich weiß nicht, warum er das tat. Vielleicht war er langsam, vielleicht vertrödelte er seine Zeit im Büro. Das glaube ich aber nicht, er war ein pflichtbewusster Mann. Wenn er etwas erfunden hätte, dann etwas, das Ordnung schafft. Davon gab es, dachte er, glaube ich, noch lange nicht genug.

Einmal stürzte einer den Abhang hinab auf einer Tour durch die Schweiz. Der Bus hielt an, Pinkelpause, Sebastian setzte über einen Zaun, hinter dem man, im Nebel, ein Stück Grün sah, aber nicht den Abgrund, der dahinter gähnte. Ich stand nicht weit entfernt und sah, wie er mit dem rechten Fuß aufsetzte, dann das Gleichgewicht verlor und verschwand. Er muss so überrascht gewesen sein, dass er nicht einmal schrie. Die Polizei, die einer der Mitfahrer rief, im nächsten Dorf, es gab noch keine Handys damals, irgendwann in den Achtzigern, die Polizei konnte ihn erst Stunden später bergen. Er lag, als man ihn fand, das hat man uns erzählt, in einem Bett aus Gras, um das herum nur Fels war und Geröll. Von oben, wo wir ausharrten, sah man nichts, im Nebel. Ich nahm an der Beerdigung teil und musste weinen, obwohl ich ihn kaum gekannt hatte. Wir waren erst drei Tage unterwegs gewesen. Sebastian saß im Bus immer allein und hörte klassische Musik, die Kopfhörer seines Walkmans im Ohr. Er hatte einen leichten Sprachfehler, ein Lispeln, das nur am Wortanfang auftrat, eine Unsicherheit, die er rasch überwand und die sich dann doch immer wieder neu einstellte. Ich weiß nicht mehr, welche Farbe seine Haare hatten, ich kann mir kein Bild mehr machen von ihm, es ist zu lange her. Seine Eltern waren viel älter als ich gedacht hatte. Er war mein erster Toter, wenn man so sagen kann, da ich ihn ja nur stolpern sah, in den Tod, und die Leiche nie zu Gesicht bekam. Ich war froh, dass diese Fahrt durch die Schweiz mit dem Bus in einer Gruppe Jugendlicher, mit der ich nichts anfangen konnte, so rasch ihr Ende fand.

Nach zehn Jahren, gut und gerne, habe ich meinen Freund Robert wiedergesehen, mit dem ich keinen Kontakt mehr hatte seit damals, als er mit der Frau schlief, die ich liebte. Äußerlich war er nicht sehr verändert. Ein gemeinsamer Freund hatte mir erzählt: er hat seine Dissertation, eine ethnografische Arbeit über einen Stamm irgendwo im inneren Afrika, nie fertiggestellt. Auf Feldforschung hat ihn, was den meisten passiert, die Malaria erwischt, aber schlimmer als die meisten, er wäre fast dran kapiert, in einem Krankenhaus in der heißen und staubigen (so stellen wir uns das doch vor) Hauptstadt dieses Landes, an dessen Namen der gemeinsame Freund sich nicht mehr erinnert. Man habe ihn kaum wiedererkannt, danach. Keine großen Änderungen äußerlich, das nicht, aber er habe begonnen, durch die Stadt zu laufen und die Quersummen aus Hausnummern zu bilden, auf die sein Blick fiel. Zugleich musste er beim Gehen immer die Schritte zählen und die Quersummen so verrechnen, dass in einer bestimmten Folge ein Hüpfer einzubauen war. Verpasste er ihn, oder ging er daneben, der Hüpfer, musste Robert zurück zum Beginn der letzten Hausnummernserie. Von außen sei nicht zu sagen gewesen, was der Unterschied war zwischen einem gelungenen und einem verpatzten Hüpfer. Er sei jetzt geheilt. Es war an der Friedrichstraße, wir eilten hinüber, ich von der einen, er von der anderen Seite, die Ampel war rot, alle anderen waren stehengeblieben. Ich zögerte, er sah mich nicht oder erkannte mich nicht oder wollte mich nicht erkennen. So ging ich auch weiter, blickte ihm noch nach. Bis er um die nächste Ecke verschwand, hatte er keinen Hüpfer gemacht.

 

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