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Ich war siebzehn, als ich mich in Michèle verliebte, die aus der Großstadt kam. Sie hatte braunes Haar und Locken. Sie lachte zu laut. Sie hatte kleine Brüste und man hörte, dass sie in München aufgewachsen war. Beim Frühstück bei einer gemeinsamen Freundin sah ich sie zum ersten Mal. Wir sprachen miteinander, über die Freiheit des menschlichen Willens, daran erinnere ich mich, wir waren siebzehn. Ein Sommertag in den Ferien, wir fuhren mit dem Rad über die Dörfer. Abends, als wir uns trennten, küssten wir uns. Es blieb der einzige Kuss, wir haben nie miteinander geschlafen. Eine Woche später fuhr sie zu ihrer Mutter, die sie hasste, und kehrte nicht zurück. Am Telefon erreichte ich niemanden. Warte ein bisschen, sagte Katrin, unsere gemeinsame Freundin. Ich wartete, während die Welt unterging. Tagelang war ich zu Fuß unterwegs, ohne einen vernünftigen Gedanken zu fassen, dann fuhr ich nach München. Das Hotel, in dem ich übernachtete, konnte ich mir nicht leisten. Ihre Mutter schlug mir die Tür ins Gesicht. Nach Tagen erfuhr ich, dass sie in Haar war, in einer psychiatrischen Anstalt. Ich durfte sie nicht besuchen und fuhr zurück in meine Stadt. Wochenlang habe ich versucht, sie zu erreichen, am Telefon. Als es mir gelang, sagte sie, sie werde nicht mehr zurückkommen in die Stadt, in der ich lebte. Sie wolle nochmal von vorne anfangen. Sie wolle nicht, dass ich sie besuche. Fünfzehn Jahre später sind wir uns auf einer wissenschaftlichen Konferenz über den Weg gelaufen. Sie hat mir ihren Mann vorgestellt. Sie hielt einen Vortrag über Stifters Witiko. Er war nicht sehr gut.

In der Stadt, in der ich aufgewachsen bin, gab es vier evangelische Kirchen und zwei katholische. Als ich zehn war, setzte ich mir in den Kopf, an Gott zu glauben. Meine Eltern zuckten nur mit den Schultern, ich ließ mich taufen, katholisch. Ich beichtete meine Sünden und ging zur heiligen Kommunion. Jeden Sonntag war ich in der Kirche und langweilte mich furchtbar. Da ich nichts mag, was sich wiederholt, war ich fehl am Platz, verfolgte die heilige Messe ein jedes Mal im Gotteslob nach, kniete und erhob mich, nie geschah etwas außer der Reihe. Ich sang nie mit, obwohl ich einige der Lieder sehr liebte, vor allem Es kommt ein Schiff geladen. Als mein Meerschweinchen krank wurde, betete ich zu Gott, er möge es nicht sterben lassen. Wir beerdigten es auf einem Grundstück, das meine Eltern gekauft hatten in einem Dorf namens Buch, nach katholischem Ritus. Es war dunkel, man darf das nicht, das Grab zierte ein weißer Kreidestein in Kreuzform. Ich habe den Stein, den ich dann zurechtschnitzte, einem Mädchen aus unserem Haus gestohlen, das damit immer die Himmel-und-Hölle-Felder auf den Teerboden des Hofes zeichnete. In der Freizeitgruppe der Katholischen Jungen Gemeinde wurde ich vom Sohn meiner früheren Kindergartentante verprügelt. Ich schrieb in mein Tagebuch, das ein kleines goldenes Vorhängeschloss hatte: Lieber Gott, mach, dass ich nicht aufhöre, an dich zu glauben. Unser Pfarrer, der mich sehr schätzte, der, wie ich viel später erfuhr, mit seiner Haushälterin ein heimliches Verhältnis hatte und einen noch heimlicheren Sohn in meinem Alter, hatte Großes mit mir vor. Er gehört zu den Menschen, die ich enttäuscht habe in meinem Leben.

Meine Mutter war eine wunderbare Klavierspielerin. Die Leute sagten, sie spiele unorthodox. Es ist eines der Komplimente, die ich ich heute noch verwende, für alles, was mir gefällt. Sie hasste Chopin und manchmal begleitete sie die großen Pianisten im Radio, vierhändig, Swjatoslaw Richter und ich, sagte sie. Ich fand, dass sie besser spielte als das Radio. Sie summte und sang dazu, wie Glenn Gould, den sie verehrte. Sie hat fast nur zuhause gespielt. Einmal gelang es mir, ihr einen Aufritt im Altenheim zu verschaffen, in dem ich meinen Zivildienst leistete. Es war ein großer Erfolg. Und eines Tages flog sie, vom Geld, das wir der nützlichen Erfindung meines Vaters verdankten, nach Toronto, um Glenn Gould spielen zu hören. Er trat kaum noch öffentlich auf, das Konzert wurde abgesagt. Meine Mutter machte eine Rundreise durch Kanada, allein, und schickte uns jeden Tag eine Postkarte. Die erste Karte kam an am Tag ihrer Rückkehr. Wir lasen sie und steckten sie in einen Briefumschlag, schickten sie zurück nach Toronto, an eine fiktive Adresse, ohne Absender. Genauso die anderen. Wenn im Radio Glenn Gould lief, nach dieser Reise, schaltete meine Mutter aus. Manchmal spielte sie nackt Klavier, immer war sie barfuß. Auch wenn sie Auto fuhr, zog sie ihre Schuhe und Socken, ja auch ihre Strumpfhose aus. Mein Vater trug immer Schuhe beim Autofahren. Wir hatten einen Plattenspieler im Radioschrank aus Holz, der war kaputt. Das Radio musste man herausklappen, vorne, auf der Kurzwelle standen Namen wie Hilversum. Meistens rauschte es da, manchmal sprach jemand, ich verstand aber nichts.

Mein Vater hatte etwas sehr Nützliches erfunden, dadurch wurden wir reich. Aus der 4-Zimmer-Wohnung sind wir nie ausgezogen. Was die Leute denken, ist uns egal, sagte meine Mutter und so sahen wir auch aus. Oft liefen meine Eltern nackt in der Wohnung herum, aber ich habe nie erlebt, dass sie Sex hatten, da passten sie schon auf. Wenn sie gemeinsam badeten, am Nachmittag, das konnten sie sich erlauben, saß ich als kleiner Junge manchmal am Rand der großen Wanne und beobachtete, wie ihr Schamhaar sich im Wasser plusterte wie dunkles Gras, und helles, schwerelos. Irgendwann wurde mir das langweilig, mit neun oder zehn, ich ging lieber Fußball spielen. Keiner von den anderen glaubte, dass meine Eltern reich sind, weil ich immer Kaufhausklamotten trug. Markennamen, die so klangen, als sei für die Markennamenerfindungsabteilung kein Geld übrig gewesen. Ich stand meistens im Tor, beim Fußball, weil ich auf dem Feld nichts taugte. Und weil ich gut war, im Tor. Wir spielten in einem kleinen Garagenhof und knallten die Bälle gegen die Garagen. Unsere Nachbarn hassten uns und wir beschimpften sie auf ihren Balkonen, in ihren Fenstern, mit dem Mut der Kleinen, die außer Reichweite der Großen sind. Wenn der Ball auf einer Garage landete, holte meistens ich ihn wieder runter. Den rechten Fuß in den Spalt zwischen der Wand und der Garagenschwenkfeder, den linken Fuß, leichte Rutschgefahr, auf die Feder, mit den Händen nach der Metallverblendung auf der Garage greifen, hinaufziehen. Kieselsteine auf der Garage, am Rand Pech, das in der Hitze flüssig wurde.

 

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